Mediterraner Ausgleich (Teil 3: Tunesien)

Mediterraner Ausgleich (Teil 3: Tunesien)

Es ist das am wenigsten spektakuläre arabische Land am Mittelmeer – keine aufregende Geschichte, keine Weltwunder, und dann noch relativ klein mit etwa 163?600 Quadratkilometern und knapp 12 Millionen Einwohnern. Doch Tunesien ist das offenste Land des arabischen Maghreb (= Westen), dem Mittelmeer besonders zugewandt und beliebtes Touristenziel. Die Briefmarkenausgaben spiegeln die (positiven) historischen Aspekte des Landes und seiner Ressourcen wider. Sie erhielten ihre besondere Attraktivität durch die Beteiligung namhafter tunesischer Künstler.

Links: Dauermarke mit Zuschlag – Araber und Franzose am Pflug (MiNr. 99, 1923). Rechts: Karthagische Galeere für französische Kriegsbeschädigte (MiNr. 108, 1923).

Die frĂĽhen Jahre

Wie die Nachbarländer Libyen und Algerien war Tunesien seit 1574 Bestandteil des Osmanischen Reiches und wurde vom Khalifen (legitimer Nachfolger vom Propheten Muhammad) in Konstantinopel beherrscht. Lokal regierten die „Bey“ genannten Statthalter. Der Übergriff Frankreichs auf Algerien (1830 Kolonie; 1881 bis 1962 Teil des Mutterlandes), teure Modernisierungsmaßnahmen und Einwanderung von Italienern, Franzosen und Maltesern bedrohten die lokale Herrschaft. 1869 übernahmen Großbritannien, Italien und Frank­reich die Finanzkontrolle. 1881 erklärte letzteres das Land zu seinem Protektorat. Die ersten Marken 1888 respektieren noch die Stellung des Beys Muhammad III. und bilden das Wappen der „Regentschaft“ ab, ab 1903 erscheint das Signum RF – République Française.

Der weitere Zustrom französischer Kolonisten und der von ihnen gesteuerte Ausbau von Landwirtschaft (Wein, Agrumen), Bergbau (Phosphate) und Infrastruktur ließ die beylikale Regierung schnell im Schatten verschwinden, es bestimmte nun der Generalgouverneur in Tunis. „Araber und Franzose am Pflug“ – der Einheimische trottete hinter dem Pflug her und der „Colon“ kassierte den Mehrwert. Der Spendenwert ging dann ans französische Rote Kreuz.

Um zu verdeutlichen, dass Tunesien eigentlich uraltes romanisches Kulturland sei, zieren die höheren Briefmarkenwerte Bilder aus den großen Zeiten Karthagos und Roms, auch hier wieder oft mit üppigen Zuschlägen für die Staatskasse.
Der Zweite Weltkrieg bildet sich nur in wiederholten Spenden-Ausgaben und fehlendem „RF“ (vichytreue Verwaltung 1941 bis zum Abzug der deutsch-italienischen Truppen nach verlorenem Afrika-Feldzug Mai 1943) ab. Als Reaktion auf die weltweiten Unabhängigkeitsbestrebungen verschärft sich der koloniale Kurs. Wieder ist für die „Kämpfer“ zu spenden, daneben übernimmt die Postverwaltung gerne wenig passendes französisches Design.

Doch Frankreich kann die Kämpfer für die Unabhängigkeit, die auf die Verfassung („Destour“) von 1860 pochen, nicht mehr bremsen. Es verliert Vietnam, die ägyptische Revolution (siehe BMS 6/2021, Seiten 43 bis 45) strahlt ab 1952 Richtung Westen und in Algerien beginnt 1954 ein blutiger Bürgerkrieg, den die Tunesier von Herzen unterstützen. Der französische Fliegerangriff auf den tunesischen Grenzort Sakiet Sidi Youssef mit über 70 Toten verstärkt die Abneigung gegen die Kolonialherren. Sie müssen den Rechtsanwalt Habib Bourguiba (1903 – 2000) aus der Verbannung entlassen, er wird 30 Jahre lang die Tunesier regieren.

Die Unabhängigkeit

Tag der Briefmarke – letzte Parallelausgabe zu Frankreich, dort MiNr. 1082 (MiNr. 464, 1956).

Mit einigen Einschränkungen gibt Frankreich 1956 die Souveränität in die Hände von Lamine Bey – nun König Mohammed VIII. – zurück. Doch die tunesischen Intellektuellen wollen eine demokratische, sozialistisch orientierte Republik ohne äußere Einmischung. Nach einem Jahr ruft das Parlament die Republik mit Bourguiba (ab 1959) als Präsidenten aus, 1964 wird der ausländische Grundbesitz enteignet und fast alle Nicht-Staatsbürger verlassen das Land. Agrarreform und Industrialisierungspolitik erbringen nur teilweise Erfolg.

1968 beginnt eine zaghafte Liberalisierung mit ausländischen Investitionen (Textil, Autozubehör) und Öffnung für den Massentourismus. Aus den Streitigkeiten der Nachbarn (Algerien gegen Marokko; Libyen gegen Tschad) hält sich das Land weitgehend heraus, obwohl man bemerkt, dass Frankreich während der Zwischenkriegszeit von Tunesien beanspruchte saharische Gebiete Algerien beziehungsweise der italienischen Kolonie Libyen zugeordnet hatte. Die Verwaltung der danach wieder libyschen Oasenstadt Ghadames blieb kurze Episode.

Großspurige Vereinigungsversuche des libyschen Führers Mu’ammar al Qadhdhafi lässt Bourguiba 1974 im Sande verlaufen. Er fährt eine Politik der Aufklärung: Emanzipation und Gleichberechtigung der Frau, modernes Familienrecht (Einehe!), qualitätvolle zweisprachige Bildung – das alles macht Tunesien zu einem Land des Ausgleichs und des Fortschritts. Die Gewährung des Asyls an den aus dem Libanon vertriebenen Yassir Arafat und seine palästinensischen Kämpfer (1982 bis 1994 in Tunis) und die Öffnung für Kapitalzuflüsse aus den arabischen Erdölländern beweisen gleichwohl die feste Verankerung in der arabischen und islamischen Welt. Den greisen Führer Bourguiba (und seinen Clan) stürzt der bisherige Geheimdienstchef und Innenminister Zine el Abidine Ben Ali am 7. November 1987.

Die KĂĽnstler-Szene

1955 kehrt Bourguiba von der Verbannungsinsel La Galité aufs Festland zurück (MiNr. 1093, 1985).

1914 reisten die Maler August Macke (1887 – 1914) und Paul Klee (1879 – 1940) nach Tunis. Unter anderem ihre Aquarelle von Sidi Bou Said sind inspiriert von der Fülle der Farben, der arabischen Exotik und der Intensität des Lichts, sie gehören zu den Höhepunkten des Expressionismus.

Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich im Nachhall und im Dialog mit französischstämmigen Malern gegen den Widerstand konservativer islamischer Kreise rund um Yahia Turki (1900 – 1960; MiNr. 1555, 2003) eine eigenständige tunesische Maler-Tradition („Ecole de Tunis“). Zu ihr gehörten u.a. Ammar Farhat (MiNr. 585, 1961, zuletzt 2002), Yahya (zuletzt MiNr. 1470, 2000) und Zubeir Turki (MiNr. 1753, 2010), Ali Bern Salem (MiNr. 1494, 2001) und Hatem El Mekki.

Letzterer, geboren 1918 als Sohn einer Indonesierin, kommt 1924 ins Heimatland des Vaters. Nach Studien und Aufenthalten in Tunis und Frankreich lässt er sich 1951 endgültig in Tunis nieder und startet eine eindrucksvolle Karriere. Neben dem Design für Banknoten und Münzen gestaltet er von 1957 bis 1995 über 450 tunesische Marken, denen er – gemeinsam mit Künstler-Kollegen – einen einzigartigen Stil verleiht. Seine Darstellung „Proklamation der Republik“ ist die einzige moderne Ausgabe, die einen etwas gehobenen Sammlerwert aufzeigt. 1959 folgen die 28 Marken der Reihe „Szenen aus dem tunesischen Leben“, von denen er 15 entwirft. Stilistisch vereint El Mekki den französischen Expressionismus mit den traditionellen Schattenspielen „Wajang kulit“ seines Mutterlandes Indonesien und den Elementen islamischer Kunst, insbesondere der Kalligrafie und einer ausgeprägten Abstraktion (da der Islam die vollständige Abbildung lebender Dinge verbietet).

In den letzten 25 Jahren sind die Entwürfe immer noch – vor allem im Vergleich mit anderen arabischen Ländern – attraktiv, doch der künstlerische Anspruch geht zunehmend zugunsten eines Fotorealismus verloren.

Die Revolution 2011

Die Misere nach der weltweiten Finanzkrise 2008/09 verdeutlichte die Verwundbarkeit der tunesischen Wirtschaft. Während die Erlöse aus dem Bergbau stagnieren, zeigt China, dass es mit seiner Marktmacht inzwischen den Textilsektor und Teile der Kfz-Zulieferung beherrscht. Auf die eher volatilen Erträge des Massen-Tourismus ist kein Verlass. Der Diktator Ben Ali hatte dem wenig entgegenzusetzen. Die „Jasmin-Revolution“ ab Dezember 2010 begann in den marginalisierten und verarmten Regionen des Binnenlandes, sie identifizierte Ben Ali und seine Frau Leila als „Kleptokraten“. Er floh im Januar 2011 nach Dschidda in Saudi-Arabien, wo er 2019 starb.

Zwar konnte sich unter den nur zwei Präsidenten in 53 Jahren eine ausgeprägte Zivilgesellschaft entwickeln. Doch in der heutigen demokratischen Auseinandersetzung stehen sich zwei Gruppen, nämlich die streng islamisch orientierten Traditionalisten und die eher aufgeklärten, aufs Mittelmeer schauenden Modernisten, oft kämpferisch gegenüber. Den Opfern sind bereits wieder Marken gewidmet. Ein Ausgleich zwischen den beiden Gruppen ist zur Erhaltung der nationalen Stabilität notwendig, den Putsch des Staatspräsidenten im Juli 2021 (Entmachtung des islamisch orientierten Parlaments) muss man zwiespältig bewerten.

Bewertung und Ausblick

Die Post – hier Tunis RP – bleibt eine Drehscheibe der Kommunikation (MiNr. 1952, 2018).

Die Tunesier sind bis heute stolz auf ihre Marken und verwenden diese weiterhin im Postverkehr. In der Hauptpost in Tunis – heute vor allem von Nutzern der Postsparkasse besucht – befindet sich ein schöner Philatelie-Schalter mit umfangreichen Beständen. Der Druck erfolgt seit Ende 1997 ausschließlich in der eigenen Offset-Druckerei (siehe MiNr. 1940, 2017), die auch für Nachbarländer tätig ist. Es macht Freude, tunesische Marken zu betrachten und zu sammeln. Die Preise auch für über 100-jährige Serien sind moderat, denn viele Franzosen sammelten „Frankreich und Kolonien“, und diese Bestände kommen kontinuierlich auf den Markt. Da es bei angemessenen Nennwerten keine künstlichen Verknappungen und „Spielchen“ gibt, kann man sich auch die neueren Ausgaben im Abonnement oder bei einem Tunis-Besuch leisten – kein großer Wertzuwachs, aber mediterranes Ambiente garantiert.

Dr. Konrad Schliephake

Literatur und Quellen

  • © Bilder aus Sammlung des Autors
  • Bensalah, Taoufik (2012): La Tunisie millenaire – une longue histoire et des timbres-poste. Tunis.
  • Dietz, T. u. D. Foeken (2008): The Iconography of Tunisian Postage Stamps, in: Netherlands Geographical Studies no. 376, Amsterdam.
  • Lasram, Zubeir (1984): Die Entwicklung der Malerei, in: K. Schliephake (Hrsg.): Tunesien. Stuttgart, S. 307–319.
  • Michel Ăśbersee Bd. 4.1.: Nordafrika (2021), Germering.
  • www.tunisia-stamps.tn (alle Ausgaben seit 1888 mit Bild, Entwerfer, Druckverfahren)
  • www.poste.tn/philatelie, u.a. La poste tunisienne en chiffres
  • www.artnet.de/kuenstler/hatim-el-mekki/biografie

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Authored by: BMS-Redaktion

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