Marke der Woche: Kalter Wind
Manche Postverwaltungen planen ihre Ausgaben weit im Voraus. Wenn sie dann auch noch frühzeitig die Fachpresse mit ausführlichen Informationen versorgen, dann lacht das Herz des Redakteurs. Was ihm jedoch ein wenig das Lachen im Halse stecken bleiben ließ, das war das Thema und die Umsetzung des kommenden Fabel-Blocks aus Griechisch-Zypern. Wie bereits bei der letzten Ausgabe handelt es sich um eine Fabel des großen antiken Dichters Äsop, dieses Mal ist es „Die Ameise und die Heuschrecke“. Darin geht es hochmoralisch um das Vorausdenken und Planen für die Zukunft. Denn während die Ameise den ganzen Sommer über rackert und schafft, um sich einen großen Vorrat für den Winter anzulegen, singt und springt die Heuschrecke durch Wald und Flur und genießt das Leben. Es kommt, wie es kommen muss: Der Winter bricht herein und die Heuschrecke findet keine Nahrung mehr, also klopft sie an der Tür der Ameise. Diese erwidert das Hilfegesuch folgendermaßen: „Ei, hast Du im Sommer singen und pfeifen können, so kannst Du jetzt im Winter tanzen und Hunger leiden, denn das Faulenzen bringt kein Brot ins Haus.“ (…weiter…)
Ein Schelm, der diese Briefmarkenausgabe Zyperns in irgendeinen Zusammenhang mit dem jüngst von Zypern an die EU gerichtete Hilferuf bringen möchte. Nein, das wäre nicht fair. Auch das in der Pressemitteilung gezogene Fazit, „Denke stets an die Zukunft, besonders, wenn Du schon vorher weißt, was notwendig sein wird,“ kann man natürlich nicht auf die Realität übertragen. Welche Regierung kann denn schon ahnen, dass sie in der Zukunft irgendwelches Geld bräuchte? Außerdem arbeiten bei der EU bekanntlich keine Ameisen, und Heuschrecken vermögen rein anatomisch keine Geige zu spielen. Nein, das ist es nicht, was dem Leser aufstößt, auch nicht die eklatante Musiker-Feindlichkeit der Fabel. Vielmehr ist es der Schluss, der einen stutzen lässt. Denn den hat die zyprische Postverwaltung gekürzt. Äsop lässt nämlich sogar die Ameise einen Anflug von Mitleid empfinden. Und so gibt sie der Heuschrecke etwas zu Essen und spricht: „Aber Du musst mir auch etwas musizieren.“ Was aber lesen wir zum Schluss der zyprischen Version? „Sie (die Ameise) schloss die Tür und ließ die Grille draußen stehen.“ Und das mit einem koketten Lächeln im Gesicht (siehe Abbildung).
Nein, das ist nicht schön, lässt sich aber erklären. Der entscheidende Hinweis ist das Wort „Grille“. Handelt es sich bei Äsop nämlich um eine Heuschrecke, taucht die Grille erst im 17. Jahrhundert in einer nachgedichteten Version der Fabel aus der Feder Jean de la Fontaines auf. Und dieser dem schönen Leben zugeneigte niedere Adlige hatte sich die Freiheit herausgenommen, die Moritat ein wenig schärfer zu gestalten. Und so strich er die Passage der Vergebung aus dem Text, sodass sich die Ameise ganz wie ein zeitgenössischer französischer Comte benahm. Vielleicht hätten die zyprischen Griechen sich für die Sondermarken vom 3. Oktober doch lieber an ihren Vorfahren halten sollen, sein Text ist unter humanitären Gesichtspunkten doch erheblich erfreulicher. Zumal es keine Schande ist, für eine Mahlzeit zu musizieren. Das haben bereits die Ahnen der großen Dichter und Sänger getan. Und unter uns Heuschrecken gesprochen: Eine Welt voller Ameisen wäre doch fürchterlich langweilig, oder?
MICHEL Iberische Halbinsel 2022
107. Auflage, 896 Seiten, kartoniert
Preis: 54,00 €
Versandkostenfreie Lieferung innerhalb Deutschlands.
Katalog bestellen